In dieser Ausgabe etwas, das ich dieses Jahr gerne öfter machen möchte: einen ausführlichen Deep-Dive zu einem Thema. So geht es heute um Konzertfilme. Abgerundet wird am Ende der Ausgabe mit Breaking News (bewusst auf Englisch).
Viel Spaß beim Lesen
Fab
Spotlight: Konzertfilme

Live.
Es hat ein paar Jahre gedauert, aber inzwischen gilt in weiten Teilen der Branche: Short-Vertical-Videos bestimmen das Geschäft, Musikvideo-Budgets werden immer schmaler (wenn sie denn überhaupt noch vergeben werden), und alles, was Querformat ist, gilt als outdated. Livemusik spielt im (linearen) Fernsehen nur noch selten eine Rolle. Man erinnere sich an Rockpalast, Komplettübertragungen von Rock am Ring / Rock im Park auf MTV oder die Vielzahl an Musikslots in TV-Shows. Nahezu alles verschwunden. Und doch ließ sich in den letzten Monaten beobachten, dass das Genre des Konzertfilms eine Renaissance erlebt und teils spektakuläre Produktionen für Wirbel sorgen. Woran liegt das und was passiert da? Fragen wir einen Experten:
Tobias Berbuer habe ich zufällig im Rahmen der c/o pop in Köln auf einer Parkbank kennengelernt. Was sonst Smalltalk ist, nach dem man Namen und Gesicht dreißig Minuten später wieder vergisst, blieb hier im Gedächtnis. Erstens, weil mich Tobias mit einem guten Tipp vor Ärger mit der Polizei bewahrt hat (andere Geschichte), und zweitens, weil das Gespräch sehr erhellend war.
Tobias Berbuer ist Filmemacher, spezialisiert auf Konzertfilme, hat mit diversen Größen wie Philipp Poisel, Broilers und vielen weiteren gearbeitet und deswegen spannende Takes parat. Ich freue mich sehr, dass er Zeit hatte für ein Interview.
In Zeiten von Social-Reels und kurzen Aufmerksamkeitsspannen: Warum braucht es den Konzertfilm noch?
Gerade als Ergänzung zum kurzweiligen Social-Content schaffen Konzertfilme eine starke und nachhaltige Bindung zwischen Artist und Publikum. Warum? Weil sie echt sind und berühren. Ich sehe Concert-Cinematography – also eine auf Artist und Musik zugeschnittene, gefilmte Live-Performance – als Weiterentwicklung der «klassischen» Konzertaufzeichnung auf laufender Tour. Auch (dokumentarische) Live-Sessions aus Studio, Proberaum oder einer Off-Location schaffen ein intensives und authentisches Erlebnis. Konzertfilme können z.B. als Album-Release-Event oder Auskopplungen einzelner Songs für die Release-Kampagne, als Promo für die bevorstehende Tour, Highlight nach Tourabschluss oder als ein eigenständiges Live-Album ausgewertet und damit wichtiger Baustein einer Content- und Releasestrategie sein.

Tobias Berbuer (Bildmitte, mit Mütze und Brille) und seine Crew am Set. Foto: Sophie Seybold
Was macht einen Konzertfilm großartig? Ist es letztlich eine Frage des Budgets – und wenn ja, wie viel braucht es mindestens, um ein hochwertiges Ergebnis zu erzielen?
Als Regisseur habe ich den Anspruch, die besondere Atmosphäre der Musik filmisch zu übersetzen. Authentisch, individuell und angemessen inszeniert mit den Werkzeugen des Filmhandwerks – Storytelling und Bildsprache, Art-Direction und Production-Design. Concert-Cinematography ist in erster Linie eine inhaltliche Überlegung und weniger ein budgetärer Aspekt. Es kommt weder auf die Anzahl der Kameras noch auf die Größe der Location an. Um aber einen Kostenrahmen zu skizzieren: Mit dem Budget von drei Musikvideos lässt sich ein guter Film entwickeln und ein stimmiges Content-Paket aus Teasern, Trailern und BTS-Footage schnüren. Live-Sessions können auch mit kleineren Budgets umgesetzt werden, für eine Ü-Wagen-Produktion im Stadion muss hingegen mit höheren Produktionskosten gerechnet werden. In jedem Fall ist es wichtig, früh und offen über Wünsche und Anforderungen zu sprechen, um die mögliche Einbindung von Fördermitteln und Sponsoringpartnern mit Vorlauf anzugehen.
Draußen, drinnen, Club, Kirche, Wohnzimmer, mit Publikum, ohne Publikum, Bühnendesign: Wie wichtig sind Location und Setting? Was muss für den Dreh zwingend beachtet werden?
Live ist live – ich will spüren, dass es echt ist! Und genauso authentisch sollte das gesamte Setting sein. Angemessen, zum Look and Feel des Artists passend. Insbesondere Sound und Raumakustik spielen eine Rolle bei der Locationwahl. Essenziell sind frühzeitige Absprachen und Planungen mit den Gewerken Licht- und Bühnendesign, Technik und örtlichen Veranstaltern. Zudem sollte eine gemeinsame Begehung vor Ort eingeplant werden, sowohl für die reibungslose Integration einer Filmproduktion im laufenden Tourbetrieb als auch bei der Planung eines eigenständigen Drehs. Wichtigster Aspekt aus meiner Sicht als Filmemacher ist kamerataugliches Licht: die Abstimmung zu Weißlicht/Farbtemperatur für natürliche Hauttöne; Farbauswahl, Helligkeiten und Kontraste für den richtigen Look. Ziel sollte sein, dass die Lichtshow ebenso für das Publikum vor Ort wie für die Aufzeichnung funktioniert.
Was sind die wichtigsten Faktoren bei Planung, Umsetzung und Auswertung?
Für eine reibungslose Produktion und ein bestmögliches Ergebnis halte ich diese Punkte für grundlegend: frühzeitiger Austausch mit Artist, Management und weiteren Beteiligten, wie Label und Vertrieb zu inhaltlicher Konzeption, technischer Planung und Produktionsvorbereitungen und mit klar definierten Verantwortlichkeiten. Dazu gehören auch eine abgestimmte Content- und Auswertungsstrategie, ein guter Workflow für die Bild- und Ton-Postproduktion und ein definiertes Timing mit gemeinsamer Abnahme. Offene Kommunikation, gute Planung und klare Zielsetzung sind die Basis. Nicht zuletzt: Integriert die Filmemacher und beteiligten Crews beim Ausrollen der Kampagne. Abgesehen von der Wertschätzung durch Aufführen der Credits (bei YT, Socials, IMDb etc.), entsteht weitere Sichtbarkeit durch Multiplikatoren in den Netzwerken von Crew und Kreativschaffenden.
Wie kann man Konzertfilme heutzutage auswerten (auch monetär)? Was hat sich da in den letzten Jahren bewegt? Siehst du spannende neue Ansätze?
Ich begegne regelmäßig den Annahmen «Mit Konzertfilmen lässt sich kein Geld verdienen» und «Wer Konzertfilme schaut, kauft keine Tickets». Das Gegenteil ist der Fall! Denn ein mitreißender und berührender Konzertfilm erhöht die Reichweite und stärkt die Fanbindung, die zu Album-, Ticket- und Merchverkauf führt. Heute bieten sich für Konzertfilme diverse Auswertungs- und Monetarisierungs-Möglichkeiten. Zum einen der digitale Eigenvertrieb über Video-on-Demand-Plattformen, als Exklusiv-Content bei Mitglieder-Communitys (z.B. Steady, Bandcamp, Patreon etc.) oder auf der eigenen Website. Hinzu kommt die klassische Videostreaming- oder TV-Auswertung, oft in Kombination mit einer Dokuserie. Siehe Kummers «Bye, bye, Kummer» oder Peter Foxs «Block Party», die beide in der ARD / ARD-Mediathek liefen beziehungsweise laufen werden. Ebenso denkbar: Kino-Distribution als Tagesevent in einer oder mehreren Städten oder eine kleine Kinotour, flexibel skalierbar, mit geringem Aufwand und transparentem Share. Oder gar ein Blu-ray-Release in Dolby Atmos für Hardcore-Fans und Audiophile, die ein relevanter Faktor für den Break-even der Herstellungskosten sein können. Nicht zuletzt kann die Musik als «Audio only»-Release auf den DSPs veröffentlicht werden. Für Reichweite-starke Acts spielen Revenues und Sponsoring auf YouTube eine große Rolle. Über die direkte Monetarisierung hinaus bieten sich auch starke indirekte Effekte: guter Live-Content hilft dem Booking und kann zur Tourankündigung, für Promo und Press-Kits genutzt werden.
Wo ich dich schon einmal an der Angel habe: Magst du für Low Budget High Spirit deine aktuellen Favorites und All-Time-Highlights zusammenstellen?
Klar gern!
Ganz aktuell und sicherlich eine der Benchmarks hierzulande: Casper - Live in Bielefeld. Tolle Arbeit von Chris Schwarz mit starkem Team von Multicam-Director (Yves Zosso) über Audio-Recording (Peter Brandt) bis zum Arri-Ü-Wagen mit Live-Color-Grading (Martin Gallo Schmidt). Dazu ein umfangreiches und rundes Content-Paket, das den Gig angemessen würdigt: vierteilige Mini-Doku «Road to Bielefeld», etliche sehr gute Trailer und ein Konzertfilm im Eigenvertrieb für zehn Euro auf der Casper-Website (Stichwort Monetarisierung). Richtig gut!
Aus Frankreich kommen in meinen Augen aktuell die spannendsten Konzertfilme. Allesamt fühlen sich mehr nach Film an als nach Fernsehen. Es gibt ein großes Spektrum an Konzertfilmformaten, ein gutes Dutzend ausgezeichnete Regisseure und Regisseurinnen, die seit Jahren auf hohem Niveau arbeiten, sich inhaltlich und visuell immer weiterentwickeln. Gerade ARTE ist dort hervorzuheben, zum Beispiel die Reihe «Ground Control». Sensationelles Licht. Sensationelle Hauttöne, Tiefe, Staffelung. Auch durch die Mittelbühne ein Verbindung mit dem Publikum vor Ort: Das Regieduo Gautier und Leduc und der geniale Director of Photography (DOP) Benoit Feller machen wahnsinnig gute Arbeit. Finde ich toll! Hier die Show von Róisín Murphy.

Aus UK kommen natürlich ebenfalls super Filme. Die Engländer haben, wenn es um große Konzertfilme geht, mit z.B. Done+Dusted (Regisseure Hamish Hamilton & Russel Thomas), Paul Dugdale und Splinter Films / Nick Wickham seit den 00er-Jahren die Messlatte immer wieder neu definiert und produzieren rund um den Globus neben den ganz großen Konzertfilmen auch die großen Shows wie zum Beispiel den Super Bowl.
Aber sie können es auch eine Nummer kleiner. Hier eine «kleine» Hochglanz-Produktion von RAYE in der Royal Albert Hall. Sieht natürlich sensationell aus, ist als Produktion mit «nur» sieben Kameras aber verhältnismäßig übersichtlich.
Ebenfalls toll: ein wunderschönes Club-Setting von Michael Kiwanuka – Live At The Mildmay Club.
Eines meiner persönlichen Highlights: der Konzertfilm für Philipp Poisel, den ich mit Benedikt Schnermann entwickeln durfte. Im Laufe der Vorbereitungen war schnell klar, dass wir dem Projekt mit einer klassischen Multicam-Produktion nicht gerecht werden. Wir sind deshalb volles Risiko gegangen und haben mit nur zwei bemannten und einer festen Kamera gearbeitet. Das Ziel war ein zeitloser, filmischer Look; mit weichen Hauttönen, ohne digitale Härte, die LED-Beleuchtung mitbringt – und das bei reduziertem Lichteinsatz. Weiter war uns wichtig, den Musikerinnen und Musikern möglichst viel Raum zu geben. Ich persönlich mag die Mittelbühne als Setting: Mittendrin und in Verbindung sein – sowohl innerhalb der Band als auch mit dem Publikum. Den Film gibt es in voller Länge in der 3sat-Mediathek.
Video Link: https://www.3sat.de/kultur/pop-around-the-clock/philipp-poisel-108.html